Erschienen im Hanf!-Magazin, Heft 4/2002

Der Galilaei-Effekt

Als Galilaei das Fernrohr erfand, weigerten sich die Mächtigen seiner Zeit, hindurchzuschauen, weil dies ihr Weltbild erschütterte; als Leuwenhook durch das erste Mikroskop blickte und erklärte im Speichel lebten kleine Tierchen, erklärte man ihn für verrückt. Neue Werkzeuge gebären neue Weltbilder - und zu allen Zeiten hatten die Pioniere des Neuen mit den Verteidigern des Alten zu kämpfen und oft genug mußten erst ganze Generationen wegsterben, bevor das unerhörte Neue allgemeine Anerkennung fand. Mit dem Zeitalter der Aufklärung, der Etablierung der Vernunft und des wiederholbaren wissenschaftlichen Experiments zur Gewinnung objektiver, allgemeingültiger Erkenntnisse, ist das dunkle Zeitalter der Glaubenskriege keineswegs beendet - nach wie vor weigern sich die Mächtigen, ihr Weltbild durch neue Erkenntnisse erschüttern zu lassen. Auch und vor allem, wenn diese neuen Erkenntnisse einen Abschied von alten Gewohnheiten fordern. Wie zum Beispiel die Studie über die Wirksamkeit drogenpolitischer Maßnahmen, die eine europäische Kommission unter Leitung des britischen Labour-Abgeordneten Paul Flynn  http://www.paulflynnmp.co.uk/ für den Europarat erstellt hat. Am Beispiel von Schweden, mit sehr stark repressiver Drogenpolitik, Großbritannien mit überwiegend repressiven Maßnahmen, sowie den Niederlanden und der Schweiz mit ihren eher schadensreduzierenden Modellen, hat die Kommision untersucht, inweit sich diese unterschiedlichen Maßnahmen auf die Zahl der Konsumenten, des "Drogenschadens" und der "Drogentoten" auswirken. Das Ergebnis des Flynn-Berichts (http://stars.coe.fr/doc/doc01/EDOC9303.HTM) stellte keinen direkten Zusammenhang zwischen der Höhe der Strafen und der Häufigkeit des Konsums fest.
Für die Hardliner im Europäischen Parlament war dieses Ergebnis so ernüchternd, dass die parlamentarische Versammlung vor einer Annahme des Berichts 17 Klauseln ändern oder streichen wollte - und zwar vor allem jene, in denen die positiven Ergebnisse der Ansätze in der Schweiz und den Niederlanden herausgestellt wurden. Daraufhin zogen die Verfasser ihre Unterstützung für den Bericht zurück.
Dort heißt es unter anderem zum Thema Hanf: "Die Drogenpolitik der meisten Staaten scheinen auf der Annahme zu beruhen, dass höhere Rechtsstrafe den Konsum begrenzen. Jedoch geht aus den Daten klar hervor, dass der Gebrauch von Cannabis in den Niederlanden, wo Besitz und Transport von "Eigenbedarfsmengen" nicht bestraft werden, erheblich niedriger ist als in Großbritannien, wo die Rechstrafen relativ hart sind."

Ähnlich klare Daten hatte auch schon eine Studie der UN 1997 erbracht, nach der harte Repression harte Drogen fördert: der Marktanteil von harten gegenüber weichen Drogen liegt in den USA bei einem Verhältnis von 7:1, in Holland dagegen im Verhältnis 2:3.
Doch verhält es sich mit diesen Studien heute ähnlich wie mit Galilaeis Fernrohr am Beginn der Renaissance: die Gralshüter der alleinselgimachenden Prohibition wagen nicht, hindurchzuschauen - und wenn es sich doch nicht vermeiden läßt, setzen sie alles daran, die unpassenden neuen Erkenntnise in Frage zu stellen und die Ungereimtheiten wegzuerklären. Uns bleibt derweil nichts anderes, als den Mächtigen diese unerwünschten Erkenntnise so oft wie möglich vor Augen zu führen, uns nicht dumm machen zu lassen von ihren schlauen Wegerklärungsversuchen und wie Galilaei vor 500 Jahren darauf zu bestehen: "Und sie bewegt sich doch!"

Mathias Bröckers